Retail Forum 2021

Warum Social Media Chefsache ist und das Warenhaus in der Hosentasche steckt

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von Leslie Haeny und jor

Die Pandemie hat das Verhalten von Konsumentinnen und Konsumenten grundlegend verändert. Darüber waren sich die Referenten am Retail Forum 2021 einig. Sie präsentierten Ansätze wie Placemaking, Storytelling und Miet-Modelle, die den neuen Kundenansprüchen gerecht werden sollen.

Die Teilnehmenden am Retail Forum 2021 hat ein vollgepacktes Programm erwartet, denn die Veranstalter hatten einiges nachzuholen. 2020 konnte der Event - wie so viele andere auch - coronabedingt nicht stattfinden. Umso grösser war die Freude bei Veranstalter Marcel Stoffel, Gründer und CEO von Swiss Council of Shopping Places. "Ich bin sowas von happy, dass wir dieses Retail Forum vor Ort durchführen können und darüber, so viele bekannte Gesichter zu sehen", begrüsste er die Teilnehmenden am 4. November zur mittlerweile neunten Ausgabe der Veranstaltung. Der Nachholbedarf schien auch bei den Shoppingcenter-Betreibern und Händlern gross zu sein. So waren um 9 Uhr morgens fast alle Stühle im Konferenzsaal des Radisson Blu Hotel im Flughafen Zürich besetzt.

Selektiveres Einkaufen und Black-Friday-Prognosen

Als erster Speaker trat der von Stoffel als "Mann der Zahlen" betitelte Michel Rahm, Client Business Partner bei GfK Schweiz, auf. Laut Rahm war die Pandemie - wenn man sich nur die Umsatzzahlen ansieht - ein Geschenk für den Schweizer Detailhandel. So wuchs der Umsatz vergangenes Jahr um 2,6 Prozent. Wie mittlerweile gut bekannt sein dürfte, sorgte die Pandemie auch für eine starke Verlagerung zum Onlineshopping. Wie Rahm erklärte, wuchs dabei vergangenes Jahr der von inländischen Onlinehändlern erzeugte Umsatz mit 32,5 Prozent stärker als jener von Anbietern aus dem Ausland. "Konsumenten wollen wissen, wie Waren hergestellt werden und wo sie herkommen. Die Selektivität beim Einkaufen ist gestiegen", begründete Rahm die Entwicklung.

Michel Rahm, Client Business Partner bei GfK Schweiz. (Source: Netzmedien)

Bei der Schweizer Bevölkerung habe momentan der "Schutz der Liebsten" oberste Priorität. Das zeige sich nicht nur im selektiveren Einkaufsverhalten, sondern auch darin, dass Produkte wie Alarmanlagen, Schlösser und Velohelme boomen. Abschliessend präsentierte der GfK-Business-Partner noch die aktuelle Prognose für den Black Friday 2021. Laut Rahm planen 50 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten nichts Bestimmtes zu kaufen. Sie sind aber gewillt zuzuschlagen, sollten sie auf ein gutes Angebot stossen. 20 Prozent gaben an, den Kauf bestimmter Produkte absichtlich bis zum Black Friday aufzuschieben, um möglichst viel zu sparen. 11 Prozent wollen zumindest einen Teil ihrer Weihnachtseinkäufe am Schnäppchentag erledigen. Weitere 11 Prozent planen grössere Anschaffungen wie Heimelektronikartikel, Haushaltsgeräte oder Möbel. Bewusst nicht an der Rabattschlacht teilnehmen wollen 19 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer.

"Das Warenhaus in der Tasche"

Dagmar Jenni, Direktorin der Swiss Retail Federation, blickte noch ein bisschen weiter in die Zukunft. "Alles in allem können wir einem guten Weihnachtsgeschäft entgegenblicken", zeigte sie sich zuversichtlich. Zwar würden die Covid-19-Fallzahlen wieder stiegen, "ich kann Sie aber beruhigen. Wir müssen nicht mit einem weiteren Lockdown rechnen."

Dagmar Jenni, Direktorin der Swiss Retail Federation. (Source: Netzmedien)

Die Direktorin machte zudem darauf aufmerksam, dass sich das Einkaufsverhalten der Schweizerinnen und Schweizer in den vergangen zwei Jahren grundsätzlich geändert hat. Das Handy spiele eine immer grössere Rolle. Konsumentinnen und Konsumenten nutzen es nicht nur immer häufiger zum Bezahlen, sondern auch um sich über Produkte und Angebote zu informieren und natürlich auch, um Waren direkt zu kaufen. "Das Smartphone ist das Warenhaus in der Tasche." So ist denn, laut Jenni, auch der Omni-Channel-Ansatz für Händler, die auch in Zukunft bestehen wollen, ein Muss.

"Machen Sie Social Media zur Chefsache"

"Früher haben die Leute das Produkt gefunden, heute erwarten die Leute, dass das Produkt sie findet", sagte Paul Wiedmeier, Client Partner CH Brands, Retail & Services bei Facebook. Laut ihm ist die Kundschaft heutzutage immer Shopping-bereit. Es ginge also darum, die Aufmerksamkeit der Konsumentinnen und Konsumenten zu erregen und ihnen gezielte Vorschläge zu unterbreiten. Als Beispiel nannte Wiedmeier die Streamingplattform Netflix. Dort werden Nutzerinnen und Nutzern Serien und Filme aufgrund ihres Nutzungsverhaltens empfohlen - mit Erfolg. Denn das Angebot auf Netflix ist mittlerweile so gross, dass man mit "einfach mal reinschauen" häufig nicht weit kommt.

Paul Wiedmeier, Client Partner CH Brands, Retail & Services bei Facebook. (Source: Netzmedien)

Wie Wiedmeier weiter erläutete, sind "soziale Medien der Kanal, wo Leute Marken und Produkte entdecken". Er appellierte daher ans Publikum: "Machen Sie bitte Social Media zur Chefsache und delegieren sie das nicht an den Praktikanten." Ist die Aufmerksamkeit der Kundschaft und deren Kaufinteresse einmal geweckt, rät der Spezialist von Facebook auch zu moderneren Formen der Kundenkommunikation. Viele Konsumentinnen und Konsumenten tauschen sich in erster Linie über Messaging-Apps aus und würden so auch gerne mit Händlern kommunizieren.

Vernetzt, direkt und empathisch

Laut Heidi Kölliker, Digital Business Analyst bei Carpathia, ist die Zukunft des Handels vernetzt, direkt und empathisch. So würden sich viele Konsumentinnen und Konsumenten online über Produkte informieren, dann aber stationär zuschlagen und umgekehrt. Zudem sei Click & Collect ein reales Kundenbedürfnis, das immer häufiger genutzt werde. Wie die Analystin erklärte, könnte es ausserdem für Importeure und Distis brenzlig werden, da sich die Handelsstufen mehr und mehr auflösen. "Onlinehändler wie Digitec Galaxus überspringen Zwischenhändler und kaufen direkt beim Hersteller ein", sagte Kölliker. Somit kann der Händler günstigere Konsumentenpreise anbieten. Carpathia beobachte zudem, dass Onlineshops auch vermehrt selbst zu Herstellern werden.

Heidi Kölliker, Digital Business Analyst bei Carpathia. (Source: Netzmedien)

Unter dem dritten Punkt - Empathie - geht es laut Kölliker erst darum herauszufinden, wie es der Kundschaft geht und weshalb es ihr so geht. Daraufhin könnten Anbieter dann antizipieren, wie Kunden und Kundinnen handeln werden, um entsprechend proaktiv zu werden.

"Besitz ist eine Last"

Nutzen ist das neue Besitzen - dem ist sich Lucie Rein, CEO von Sharely sicher. Auf Sharely können Konsumentinnen und Konsumenten - und seit kurzem auch Händler - Alltagsgegenstände vermieten und mieten. "Besitz ist eine Last", sagte Rein und beschrieb sehr anschaulich, weshalb es für die wenigsten Konsumentinnen und Konsumenten zeitlich als auch finanziell sinnvoll ist, sich eine eigene Bohrmaschine zu kaufen. Laut Rein wird eine Bohrmaschine während ihres Produktlebenszyklus lediglich 13 Minuten gebraucht. "Am Schluss haben Sie zwar ein Loch in der Wand, aber auch ein Loch in der Tasche", so die CEO. Laut Rein gibt es zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass Access-Modelle funktionieren: Airbnb, Netflix und Uber.

Lucie Rein, CEO von Sharely. (Source: Netzmedien)

Für den Handel liege hier ein grosses, ungenutztes Potenzial. "Lieber 20 Mal vermieten als einmal verkaufen", dabei sei die Marge pro Produkt viel höher. Ausserdem könnten durch das Miet-Modell auch Überbestände und Produkte aus der vergangenen Saison noch sinnvoll verwendet werden. Die CEO hob zudem den Nachhaltigkeitsaspekt hervor: "Das nachhaltigste Produkt ist das, das man nicht gekauft hat."

Das Access-Modell ist laut Rein keine Konkurrenz für den Verkauf, sondern eine Ergänzung. Es werde immer Produkte geben, die man lieber selbst besitzt: Zahnbürste, Möbel, gewisse Statussymbole wie eine hübsche Uhr und alle Produkte, die wirklich regelmässig gebraucht werden.

Mehr Diversität, weniger Einheitsbrei

"Die Zeit nach dem Mittagessen ist immer die härteste, darum übernehme ich hier gleich selbst", begrüsste Veranstalter Marcel Stoffel die Teilnehmenden nach der Mittagspause zurück. Das Thema seiner Präsentation lautete "The Placemaking Formula". Im weitesten Sinne versteht man unter Placemaking das Gestalten von Räumen. "Verkaufsflächen müssen sich zu Erlebnisorten transformieren und begeistern", lautet der Aufruf von Stoffel. Das Begeistern sei in den vergangenen Jahren im Schweizer Retail völlig untergegangen. Sein Geheimrezept für Shoppingcenter und Retailflächen mit Wow-Effekt lautet "Mixed Use".

Marcel Stoffel, Veranstalter sowie Gründer und CEO von Swiss Council of Shopping Places. (Source: Netzmedien)

Als Beispiel nannte Stoffel hier die Markthalle in Rotterdamm. "Da wird gegessen, gewohnt, gearbeitet, geshoppt, gelebt und Freizeit verbracht." Auch Schweizer Shoppingcenter könnten diesem Beispiel folgen, indem sie die reinen Verkaufsflächen durch Angebote aus Unterhaltung, Wellness, Fitness, Medizin, Schönheit, Gastronomie, Freizeit und Co-Working-Spaces ergänzen. Einen Trend sieht der Veranstalter auch in der Flexibilität der Flächen. Flexible Nutzungen, temporäre Vermietung, flexibel Mietverträge und Vertragslaufzeiten werden langjährige Mieten und den "Angebots-Einheitsbrei" ersetzen. Zudem werden laut Stoffel erfolgreiche Retail-Destinationen zu sozialen Treffpunkten, Begegnungszonen und Erlebnisdestinationen. Also zu einem Ort, wo Menschen nicht nur Geld ausgeben, sondern auch gerne ihre Zeit verbringen.

Eine gewohnte Umgebung neu erleben

Wie ein Ort zum Erlebnis wird, erklärte Richard Wörösch, Managing Director von We Live, am Beispiel des Arc de Triomphe in Paris. Laut Wörösch zwar ein bekannter, aber toter Platz. Zu neuem Leben verhalf der Sehenswürdigkeit ein Kunstprojekt. Im Herbst 2021 wurde der Arc im Cristo-Stil verhüllt. So sollte das Pariser Denkmal hervorgehoben und gleichzeitig dem 2020 verstorbenen bulgarischen Verpackungskünstler gedacht werden. Und die Rechnung ging auf. Laut Wörösch erhielt das Kunstprojekt globale Social-Media-Präsenz. Ausserdem zog das Spektakel hunderttausende von Schaulustigen an. Das spülte auch Geld in die Taschen der örtlichen Restaurant- und Hotelbesitzer. Da der Platz um den Arc de Triomphe während der dreiwöchigen Installation für den Strassenverkehr gesperrt war, entwickelte sich der sonst so hektische Kreisel zur Begegnungszone.

Richard Wörösch, Managing Director von We Live. (Source: Netzmedien)

Das Konzept, eine vertraute Umgebung in ein neues Erlebnis zu verwandeln, lasse sich auch Shoppingcenter und Retailflächen anwenden. Wörösch warnt aber auch: "Eine solche Destination bleibt nicht für immer. Sie verblasst nach einer gewissen Zeit." Es ist also Kreativität gefragt.

Teilnehmende während der Kaffeepause im Radisson Blu. (Source: Netzmedien)

Die Geschichte ums Bier

Nicht um Denkmäler, sondern um Bier respektive die Geschichten rund ums Bier, ging es im Referat von Mareike Hofer. Sie ist Media & Digital Manager bei Heineken Schweiz und gab einen Einblick ins Storytelling. Laut Hofer ist unsere Gesellschaft durch eine "Erzähl-mal-Mentalität" geprägt. "Wir wollen im Privaten Geschichten hören und das lässt sich auch fürs Business nutzen", erklärte sie. Aber warum überhaupt Geschichten erzählen? Wie Hofer erklärte, ist die eigene Marke oder das eigene Produkt irgendwann nicht mehr genug, um Kundschaft zu erreichen.

Auch fürs Storytelling sei es essenziell, Kundin und Kunden zu kennen. "Daten verwandeln Marketing vom traditionellen Massenmarkt-Ansatz in einen persönlichen Ansatz." Auch Hofer beobachtet, dass Konsumentinnen und Konsumenten ihr Verhalten durch die Pandemie grundlegend geändert haben. "Der Kunde ist vernetzter, anspruchsvoller als zuvor. Ausserdem will er ernst genommen und individuell angesprochen werden", sagte sie.

Storytelling sei aber nicht nur eine Art um Kundschaft anzusprechen, sondern auch, um nutzerspezifische Daten zu sammeln. "Je mehr Kunden-Touchpoints im Storytelling integriert sind, desto mehr erreicht man den Kunden und desto mehr Daten kann man über ihn sammeln."

Sandra Freund, Inhaberin von SF Retail (Mitte) gewann den Retail Award 2021. (Source: Netzmedien)

Award für gutes Krisenmanagement

Den Abschluss des Retail Forum 2021 bildete die Vergabe des Retail Awards. Dieser ging dieses Jahr an Sandra Freund, Inhaberin von SF Retail und Sostere Grene Franchise Partner in für die Schweiz. Freund holte die Läden für Einrichtungsgegenstände im nordischen Design in die Schweiz. Auch wenn die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns der Jungunternehmerin Bauchschmerzen bereiteten, schaffte sie es, Sostere Grenen erfolgreich durch die Krise zu manövrieren. Für diese Leistung wurde sie nun ausgezeichnet.

Etwas anders als beim diesjährigen Retail Forum war der Tenor 2019. Damals waren die Marktverhältnisse schwierig. Die Rednerinnen und Redner stellten neue Ladenkonzepte vor und gaben viele Tipps für erfolgreiches Verkaufen. Lesen Sie den Eventbericht hier.

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